Bücherwurm

Nachdenkliche Geschichten


Nie wollte ich Tod sein, bevor ich meine Welt noch nicht vollständig erkundet hatte. Doch nach meinem Willen wurde ich nicht gefragt, als ich reglos, nach einem Autounfall, in den Armen meiner Mutter lag und mit geschlossenen Augen in den trüben Himmel blickte.

Meine Seele stieg hinauf in das Meer voller Eiskristalle. An einen Ort, der mir bis zu diesem Zeitpunkt verborgen blieb. Mit Tränen im Gesicht rüttelte sie an meinem zarten Körper. Wie sehr verletzt und verzweifelt sie war, als sie ihr geliebtes Kind loslassen musste, als die Sanitäter mich von ihr wegrissen. Deren Schreie verfolgten mich.

Bis dorthin, wo es plötzlich still wurde. Eine Todesstille, die mir, nicht wie zuvor, keine Angst machte. Unzählbare Flocken wirbelten um mich her. Ein Hauch von Magie, die mich umschloss. Sanft landete ich auf einem weißen Hügel und tauchte in etwas ein, das einfach nur himmlisch war.

Von Engeln war ich umgeben. Von Wesen übersinnlicher Natur. In deren Gesicht ein Lächeln, deren Hände zart wie Seide, als sie meine berührten. Mit ihnen schwebte ich auf das lebendige Blumenmeer hinzu, dessen Blätter sinnlich umher wehten. Je näher wir kamen, umso unruhiger wurde die Pracht. In Mitten dessen ließen mich die Engel fallen. Hilflos kniete ich zwischen all den Blumen nieder. Fühlte weder Trauer, noch Schmerz.

Eine leise und sanfte Stimme, die ich hörte meinen Namen rufen. Mein Schutzengel es war, der mir sagte: Geh zurück. Meine Zeit war noch nicht gekommen, dass ich für immer und ewig dort verweilte, wo ich bin, wo ich gewesen. Ein sanfter Schups mich dorthin brachte, wo ich zuvor war. In den Armen meiner
geliebten Mutter, die ich mit offenen Augen ansah.

Ein Jahr später kehrte ich an den Unfallort zurück und begegnete dem Menschen, der für den Unfall verantwortlich war. Wir gingen ein Stück am Waldrand spazieren und redeten.
„Wie schön, dass du noch lebst“, sagte er.
Wie schön, dass du deine Alkoholsucht endlich in den Griff bekommen hast“, erwiderte ich und die Wege gingen wieder auseinander.


Zu den Sternen

Damals war Max acht Jahre alt, als er in dem Glauben war alle Sterne einsammeln zu können. Die Leute lachten ihn aus, weil sie genau wussten, dass so etwas unmöglich war. Er wollte doch bloß seiner todkranken Schwester Marie, die durch ihre Krankheit an einen Rollstuhl gefesselt war, eine Freude machen. Vielleicht würden all die Sterne sie wieder heilen. Sie von dem Ungetüm befreien, doch er war im Irrtum. Nichts auf der Welt konnte sie wieder gesund machen, und das ließ ihn verzweifeln.

Aufgebracht verließ er sein zu Hause. Fluchte und jammerte. Nach einer Weile setzte er sich auf einem großen Stein nieder, der am Wegesrand lag. Verschränkt waren seine Arme und sein Blick getrübt.

Als der Junge in Gedanken war, tippte ihm plötzlich eine kleine Elfe auf die Schulter. Mit ihren Flügeln flatterte sie wie wild umher. Das hell rosa Kleidchen flog durch den Wind empor. Dann fragte sie: „Warum nur bist du so wütend und traurig?"

„Weil ich meiner Schwester nicht helfen kann. Sie ist so krank, dass sie bald sterben wird. Dabei wollte ich ihr alle Sterne vom Himmelszelt holen, um sie wieder gesund zu machen. Scheinbar funktioniert es nicht.“
„Nicht verzweifeln“, sagte die kleine Elfe, „warte bis heute um Mitternacht. Dann wirst du oben, auf dem Berg, eine Himmelsleiter sehen, die dich hinauf zu den Sternen führt. Ein Stern darfst du dir aussuchen und mitnehmen, aber nur einen.“ Und dann war die Elfe auch schon wieder verschwunden.
„Nanu, Elfe, wo bist du so schnell hin?“, fragte sich Max. Er schaute sich um, aber ein Finden war unmöglich. Spurlos verschwunden. Dann, nach einer Weile, machte er sich wieder auf den Heimweg.

Dort angekommen, ließ er den Tag mit Hausarbeiten verstreichen, was für ihn ungewöhnlich war. Lieber verbrachte er seine Freizeit mit herum trödeln und Unfug anstellen. An diesem Tag war es anders. Geschwind ging er vorüber und der Abend neigte sich dem Ende zu. Nachdem er Marie eine gute Nacht gewünscht hatte, verschwand er in seinem Zimmer. Er legte sich in sein Bett und wartete ungeduldig bis zur Mitternacht. Dann, als die Kirchenuhr zwölf Mal schlug, machte er sich sofort auf den Weg, an dem er am Mittag gewesen war. Die Himmelsleiter war tatsächlich da, die er schon von Weitem sah. Er lief so schnell er konnte, um die Leiter zu erreichen. So schnell, dass er dabei beinahe den Boden unter den Füßen verlor.

Dort angekommen, stieg er Sprosse für Sprosse hinauf. Als das Ziel erreicht, war er nicht nur von dem Mondschein geblendet, sondern auch von dem endlosen Sternenlicht. Nur welchen Stern sollte er nehmen? Es waren gleich so viele und wunderschöne. Die einen größer, die anderen kleiner. Er konnte sich nicht wirklich entscheiden und nahm dabei gleich zwei mit. Einen hellen und einen kleinen. Schließlich sollten sie Marie auch helfen, dachte er, und machte sich wieder auf den Weg zurück.

Zu Hause angekommen, legte er sich sofort schlafen, dass die Nacht schnell vorüberging. Als er am Morgen erwachte, nach rechts und links sah, waren die Sterne verschwunden. Einfach weg. Bis zum Mittag, als er Wutentbrannt wieder zu dem Stein lief, verbrachte er die Zeit mit ungeduldigem warten. Als der Moment kam, an dem er zu dem Stein zurück gekehrt war, ließ die Elfe nicht lange auf sich warten. Dann fragte Max: „Was ist nur passiert? Wo sind die Sterne hin?“

Die Elfe gab zur Antwort: „Du hast mir nicht zugehört. Ich sagte nur einen und was hast du getan?“

Der Junge dachte einen Moment nach und dann fiel ihm ein, dass er gleich zwei genommen hatte.
„Aber das war doch keine böse Absicht. Ich wollte doch bloß meine Schwester wieder gesund machen.“
„Meinst du nicht, dass sie sich auch nur über einen gefreut hätte, und zudem verlängert der Stern kein Menschenleben, so traurig es auch für dich ist.“

Der Junge wollte es einfach nicht wahrhaben. Er ging einmal wieder zurück und es vergingen nicht nur Tage, sondern Wochen. Plötzlich hatte Max eine geniale Idee. Als an jenem Tag die Dunkelheit anbrach, brachte er Marie genau zu dem Platz, wo die Himmelsleiter gewesen war. Oben auf dem Berg hatten sie die beste Aussicht, um all die Sterne beobachten zu können. Mit aller Kraft schob er sie den Berg hinauf. Als sie oben ankamen, nahm er sie aus dem Rollstuhl und legte sie in seine Arme. Gemeinsam beobachteten sie das Sternenmeer. „Das ist eine tolle Idee von dir“, sagte Marie, als sie hinauf sah, „so etwas habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Ich danke dir.“

Sie freute sich so sehr, dass ihre Augen mit den Sternen um die Wette funkelten. Eine Weile sahen sie sich noch gemeinsam die Sterne an, bis das todkranke Mädchen friedlich in den Armen ihres Bruders für immer einschlief.


Der verlorene Sohn

Mein Name ist Julie. Heute ist mein achtzehnter Geburtstag. Wie sehr ich mich auf diesen Tag gefreut und ihm entgegen gefiebert habe, denn endlich darf ich Auto fahren. Am meisten jedoch freue ich mich, dass meine ganze Familie Beisammen sein wird. Omas und Opas, Tanten und Onkeln, Nichten und Neffen. Für manche Menschen mag es nichts besonderes sein. Für mich schon, da dieses Zusammentreffen nur selten stattfindet, weil alle weit weg

Wartend auf die ersten Gäste, sitze ich wippend in dem Schaukelstuhl von meiner verstorbenen Oma Anni. Gerade jetzt fehlt sie mir sehr. Erinnere mich an die gemeinsame Zeit mit ihr zurück. Oftmals saßen wir in der Stube zusammen, tranken eine Tasse warmen Tee, währenddessen sie mir Geschichten von früher erzählte. Aufmerksam hörte ich ihr zu, während ich meine braunen Locken um meine Finger wickelte.
An eine Geschichte erinnere ich mich gerade, die mir sehr nahe und nie mehr aus dem Sinn ging.

In Graviant, wo meine Oma damals wohnte, gab es ein Dorf, indem Schindluder getrieben wurde. Es verging keine Woche, in der sich die Bewohner nicht darüber beklagten etwas gestohlen bekommen zu haben. Meist war es teures Werkzeug, das sie in einem Schuppen neben ihrem Haus untergebracht hatten. Geräte, die sich die Männer der Damen im Laufe der Jahre zulegten, dass für sie sehr wertvoll war. Für das Volk zählten sie zu den Vermögenden. Erwin, einer von ihnen, war anderer Meinung, denn er musste hart arbeiten, um seine Familie ernähren und versorgen zu können. Letztendlich blieb nicht viel Geld übrig, trotz, dass er im Besitz vieler Werkzeuge war.
Seltsamerweise wurde ihm nie etwas gestohlen und der Neid der Dorfbewohner überkam ihn sehr schnell.
Er war Vater von vier prächtigen Burschen von zwei, vier, sechs und acht Jahren. Seine angetraute Annabell erwartete ihr gemeinsames fünftes Kind. Lange Jahre verbanden die beiden und es gab nichts, wirklich nichts, dass sie trennen konnte. Nicht einmal die Lügen der Nachbarn, dass Erwin seine Frau mit des Schmieds Tochter betrogen haben soll, denn sie vertraute ihm.
Auch ging das Gerücht um, dass ein Fluch über dem Dorf lag, weil immer häufiger unerklärliche Dinge passierten. So berichtete Hermeline davon, die Frau des Bäckers, dass über Nacht all ihre Kohlköpfe aus der Erde heraus gerissen und zerstört auf dem Boden lagen. Auch die Möhren und Kartoffeln. Ein anderer, das die Reifen seines Traktors durchstochen waren. Und der Bauer konnte im Herbst keine Zuckerrüben ernten, weil vermutlich eine Horde Wildschweine das Feld umpflügten.
Nicht zuletzt kam der Tag, an dem sich die Bewohner  in der Dorfschenke versammelten, weil der fünfjährige Jonas aus heiterem Himmel verschwunden war, als dieser am Nachmittag vom Spielen nicht mehr zurückkam.
„Ein Unheil ist über uns gekommen“, klagte des Jungen Mutter Elisabeth jämmerlich, die in der Abenddämmerung, bis weit nach Mitternacht mit den anderen auf der Suche nach ihm war. Tage und Monate später noch, doch er blieb verschwunden. Dieses Ereignis schien die Menschen aufzurütteln, indem sie noch näher zusammen rückten. Außer Erwin, denn er hielt sich mit seiner Familie fern von ihnen und kümmerte sich um das Wohl seiner Liebsten. Hermine und der Rest des Dorfes verachteten ihn, aber dies ließ den Mann kühl. Wie er wusste, war er schon immer ein Dorn in deren Augen und musste so manche Intrige über sich ergehen lassen. Was die Leute aber nicht wussten, dass er nachts still und leise die andere Seite des Waldes nahm, um nach Jonas zu suchen. Schließlich konnte der Junge nichts für das hinterhältige Verhalten seiner Eltern. Leider blieb auch seine Suche erfolglos.

Zwei Monate später gebar Annabell ein gesundes Mädchen und taufte es auf den Namen ihrer Großmutter Johanna. Braun war des Kindes Haar, seine Haut sanft und unberührt. Dem neuen Erdenbürger schenkten die Bewohner keine Aufmerksamkeit. Seine Brüder hingegen sorgten sich liebevoll um das Kindlein und es wurde nur allzu herzlichst in der Familie aufgenommen.
Noch im selben Jahr, nach dem Verschwinden von Jonas, entschlossen sich die Eheleute das Dorf zu verlassen. Eine bessere Arbeit bot ihm der Schmied in der Stadt an, dass Erwin dankend annahm. Dort erhielt er mehr Geld und für alle schien es wie ein Segen.
Ab dann konnten sie sich teure und kostbare Kleider leisten, die er seiner Frau einmal in der Woche am Abend mit nach Hause brachte. Einige davon behielt sie. Doch, so schön sie anzusehen waren, bot Annabell die restlichen, ohne ihren Mann davon wissen zu lassen, auf dem Wochenmarkt zum Verkauf an. Ebenso wusste er nicht, dass seine Frau die erbrachten Taler dem Waisenhaus übergab, das weit abgelegen von der Stadt war.
Bis zu dem Tag, als er nach einigen Monaten einen Auftrag im Namen des Schmieds dort zu erledigen hatte.
Nach einem halbstündigen Fußmarsch, indem er einen Wagen voll Werkzeug hinter sich her zog, erreichte er erschöpft den Hof und sah Annabell verwirrt an, als sie mit Johanna, die auf ihre Brust gebunden war, auf ihn zukam. Wortlos gingen sie aneinander vorbei, weil Erwin sich verspätet hatte und bereits von der Leitung des Waisenhauses erwartet wurde. Nach einer halben Stunde, nachdem Annabell am Tor auf ihn gewartet hatte, gingen sie gemeinsam in die Stadt zurück.
Sie ließ ihn wissen, welch gutes Herz sie hatte und ihr die Kinder leid taten. Vor allem sagte sie, dass es nicht die teuren Kleider waren, die sie glücklich machten, sondern die lachenden Kinderaugen im Waisenhaus. Ganz besonders das Lachen von Julius. Ein zehnjähriger Junge, der vor einigen Jahren auf der Straße eingesammelt wurde, wie er Annabell hat einmal wissen lassen, als sie gemeinsam auf dem Hinterhof Kirschkernspucken machten. Irgendwie kam er ihr so bekannt und vertraut vor. Gerade so, als wären sie sich schon einmal begegnet. Schnell schlug sie sich dieses Hirngespinst aus dem Kopf, da sie zuvor auf dem Dorf wohnte und zu den Stadtmenschen keinen Kontakt hatte.
Als Annabell von Julius erzählte, ließ Erwin der Gedanke an ihn nicht los. Auch wollte er nicht verstehen, wieso seine Frau ihm all das verborgen hielt, denn auch er hieß ihre Entscheidung für gut. Nach reichlicher Überlegung gingen die beiden, samt Johanna, zurück zu dem Waisenhaus, weil er den Jungen unbedingt sehen wollte.

Dort angekommen, seinem Instinkt gefolgt, trat er dem zehnjährigen gegenüber. Sofort sagte ihm sein Gefühl, dass es Jonas, der verschwundene Sohn von Elisabeth war, als dieser ihm freudig in die Arme fiel. Agneta, seine Bezugsperson, die für ihn zuständig war, ließ die beiden wissen, wie es dazu kam, dass der Junge ab dann in dem Waisenhaus untergebracht war. Da er viele Monate kein Wort von sich gab und sie nichts über ihn wussten, weder sein Name, noch seine Herkunft, benannten sie ihn Julius.
Annabell freute sich in diesem Moment so sehr, dass ihre Augen immer mehr anfingen zu glänzen, weil sie den Jungen in ihr Herz geschlossen hatte. Gemeinsam mit Agneta verbrachten sie die restliche Zeit des Tages, bis sich die Eheleute wieder auf den Zurückmarsch in die Stadt machten, bevor die Dunkelheit anbrach.

Ein Jahr verging, indem Erwin mit seiner Familie immer wieder zu dem Waisenhaus zurückkehrte, um Julius zu besuchen. Er entwickelte sich prächtig. Auch, wenn es Momente gab, in denen er sein trauriges Herz ausschüttete und die beiden wissen ließ, wie schlecht es ihm bei seinen Eltern damals ging und wieso er an dem besagten Tag aus dem Dorf weglief. Sein Vater war es, der ihn einmal wieder mit einem Holzstock schlug, weil er nicht gehorchte. Am Mittag, als dieser auf dem Feld war, wischte der Junge seine Tränen aus dem Gesicht und ging zu seinen Freunden auf den Dorfplatz. Anmerken ließ er sich nichts.
Zwei Stunden vergingen, in denen sie gemeinsam spielten und tobten. Bis sich Franz, einer von ihnen, still und heimlich zu dem Auto begab, dass am Wegesrand stand. Er nahm sich ein Stück weiße Kreide aus seiner Hosentasche, dass er am Morgen im Unterricht eingesteckt hatte und fing es an zu bemalen. Seine Abwesenheit bemerkte anfangs erst keiner. Bis Frau Bolte, die Besitzerin des Autos, schimpfend mit rauer Stimme dem Geschehen immer näher kam. Alle eilten zu Franz. Für einen Augenblick lächelte Jonas, weil die ältere Dame mit ihren Lockenwickler auf dem Kopf, die sie unter einem Netz versteckt hielt, witzig für ihn aussah. Ebenso die geblümte Schürze.

Um fünf Uhr, als die Kirchenglocken schlugen, war es Zeit um nach Hause zu gehen. Somit schwand auch sein Lächeln. Ein kleines Stück ging er mit seinen Freunden, doch dann entschloss er sich dazu nie mehr zu seinen Eltern zurückzuwollen. Er ließ Franz und die anderen in dem Glauben etwas auf dem Dorfplatz vergessen zu haben und kehrte um.
Wieder dort angekommen, saß er eine ganze Weile wartend und nachdenklich auf der Bank. Da sich das Tageslicht immer mehr dem Ende zuneigte, richtete er sich auf und marschierte los, ohne zu wissen wohin.
Nach vielen Stunden durch die Dunkelheit irrend, ging er dem Morgenlicht entgegen, das ihn auf den Weg in die Stadt führte. Gott sei Dank, dass ein Auto in den frühen Morgenstunden neben ihm anhielt, aus dem eine ältere Frau ausstieg und sich dem Jungen zuwendete, dessen Leib zitterte. Behutsam lud sie ihn in ihr Auto, legte eine Decke um den durchfrorenen Körper und nahm ihn mit zum Waisenhaus.

Tief in ihre Arme schließend nahm Annabell den Jungen zu sich, nachdem er aufhörte zu reden und drückte ihn so fest sie nur konnte. Auch Erwin war von den Worten ergriffen, denn er hätte seinem Fleisch und Blut so etwas nie antun können. Am liebsten hätten sie Julius sofort mit zu sich genommen, um ihm ein schönes Familienleben zu bieten. Auch er war damit einverstanden. Doch, bevor er sein elftes Lebensjahr nicht erreicht hatte, war dies nicht möglich, weil Agneta dies vertraglich so festhielt. Hatten die Eheleute tatsächlich Interesse dem Jungen ein neues zu Hause zu geben, mussten sie sich noch ein weiteres Jahr gedulden.

Viele aufregende Monate vergingen, in denen Erwin zahlreiche Überstunden machte, damit er genug Geld weglegen konnte, um noch ein weiteres Kind zu versorgen. Diese Zeit nutzte Annabell, wenn ihre Kinder schliefen, um Julius Kleider zu nähen. Und wenn der Vater einmal nicht arbeiten musste, war er damit beschäftigt ein Zimmer für den Jungen auf dem Dachboden auszubauen, weil in den restlichen Zimmern kein Platz mehr für ihn war.

Endlich war es so weit. Bevor sich alle auf den Weg machten, um Julius aus dem Waisenhaus abzuholen, gab es noch eine Menge zu erledigen. Erwin hackte Holz im Hof und stapelte es anschließend neben dem Kamin im Wohnzimmer. Annabell rührte derzeit einen Kuchenteig und während dieser im Ofen backte, ging sie in den Garten, um einen Blumenstrauß zu pflücken. Es waren weiße Margareten, roter Klatschmohn, gelber Sonnenhut und lila Astern, die in einem Tonkrug ihren Platz auf dem Küchentisch fanden. Und ihre Söhne machten im Schuppen nebenan ein Willkommensgeschenk, indem jeder von ihnen eine Figur aus Holz schnitzte. Es waren ein kleines Schwein, ein Fuchs, ein Elefant und ein Engel, der symbolisch gedacht war, um den Jungen zu beschützen.
Nicht zuletzt fegte Annabell das ganze Haus und als die Arbeit erledigt war, gingen alle auf ihre Zimmer und zogen sich um. Da dies ein besonderer Tag für alle war, sollten es nur die besten Kleider sein. Wie lieblich Johanna mit ihrem rosa geblümten Kleidchen aussah, dessen Schleife, die am Rücken zusammen gebunden war, weit nach hinten flog, wenn sie fröhlich durch die Luft tanzte. Weiße Lackschuhe zierten ihre kleinen Kinderfüße, das ein leises klackern auf dem Fußboden hinterließ. Alle waren aufgeregt, weil sie es einfach nicht mehr abwarten konnten.

Nachdem Annabell den Kuchen aus dem Ofen nahm und ihn zum abkühlen auf den Tisch stellte, machten sich alle auf den Weg. Der Moment, indem sie Julius in ihre Arme schließen konnten, rückte immer näher.
Eine halbe Stunde marschierten sie durch die warme Mittagssonne und konnten von weitem sehen, wie Julius mit Agneta schon wartend im Eingangstor stand. Von ihr losgerissen, lief er seiner neuen Familie entgegen, die ihn tief in ihre Arme schlossen. Endlich war der lang ersehnte Moment da, indem sie Julius mit zu sich nehmen durften.

Bevor sie den Rückmarsch antraten, folgten im Waisenhaus Stunden bei Spiel und Gesang, indem sich der Junge von den anderen Kindern und Betreuern verabschieden konnte. Gegen Abend war es an der Zeit sich zu verabschieden. Agneta drückte Julius noch ein letztes Mal, bevor er seinen Koffer nahm und mit seiner neuen Familie in die Stadt ging. Ein bewegender Moment, in dem sie ihn losließ und ab dann ein neues Leben für den Jungen begann.

Welch trauriges und zugleich freudiges Ende die Geschichte nahm. Der zuvor geglaubte verschwundene Sohn war wieder da. Gott schenkte ihm ein neues Leben, indem ihn die Eheleute aufnahmen und ihm die Liebe und Fürsorge gaben, die ihm zustand.

Noch immer sitze ich in dem Schaukelstuhl und sehe gerade, dass die ersten Gäste kommen. Möchte mich an dieser Stelle verabschieden. Manches, was Oma sagte, kann ich noch immer nicht verstehen, weil sich im Gegensatz zu früher eine Menge verändert hat. Eines jedoch nicht – das Verhalten der Menschen.

 

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